Neuer Mercedes-AMG SL (2022): Testfahrt
Der SL findet zurück zu sich selbst
Der neue Mercedes-AMG SL (2022) kann das noch mehr, als alle seine Vorgänger: Komfortabel reiselustig sein und kernig Attacke machen. Zwischen Los Angeles und Palm Springs zeigt er bei unserer ersten Testfahrt, was er kann – mondän cruisend, knackig kurvenhetzend.
Siebzig Jahre vor dem neuen Mercedes-AMG SL (2022), den wir zur ersten Testfahrt entführen dürfen, vergibt der schwäbische Autobauer erstmalig die Modellbezeichnung "SL". Gemeint ist damals ein ausgekochter Rennwagen, mit dem ab 1952 die internationale Rennsportszene aufgemischt wird. Der 300 SL Typ W 194 kassiert nahezu aus dem Stand einen Doppelsieg in Le Mans, belegt neben weiteren Großtaten beim Großen Jubiläumspreis am Nürburgring gar die ersten vier Plätze und rempelt sich so innerhalb weniger Monate auf die Pole Position unter den begehrenswertesten Rennern der frühen 1950er Jahre. 1954 schiebt Mercedes-Benz auf Wunsch des Vertriebs eine Straßen-Version dieses Rennwagens nach, als "Flügeltürer" wird dieser 300 SL (W 198) zur Legende. Schnell, schön, charismatisch – ein ewiger Meilenstein für die Marke Mercedes-Benz. Bereits die vor allem aus den USA heftig nachgefragte Roadster-Version verstärkt einen ganz unerwarteten Aspekt des SL: Aus dem Rennwagen wird ein Lebensgefühl-Sportwagen, ein mondänes Must-Have-Automobil. Dies ist das eigentliche Metier der Marke und die nächste SL-Generation ab 1963 dreht den Spieß weiter um, cruist elegant als "Pagode" auf die Flaniermeilen und Hausstrecken dieser Welt, ein Rennwagen ist der SL ab jetzt nicht mehr. Dieses Urteil gilt ab nun für alle weiteren SL-Generationen, die immer zeitlose Fahrmaschinen sind, saftige Kurven-Cruiser, elegant und lässig, gesättigt mit in sich ruhender Fahrfreude – aber ohne jede rennsportliche Ambition. Zuletzt ist der SL eine Art zweisitzige Emotions-S-Klasse, ingeniöse Leistungsschau und gleichzeitig herrlich wertkonservative Visitenkarte der Marke Mercedes-Benz. Bis jetzt, bis zum neuen Mercedes-AMG SL (2022). Mehr zum Thema: Unsere Produkttipps auf Amazon
Der Mercedes Vision EQXX (2021) im Video:
Erste Testfahrt mit dem neuen Mercedes-AMG SL (2022)
Dass für den völlig neuen Mercedes-AMG SL (2022) ausgerechnet AMG verantwortlich zeichnet, lässt tief blicken: Mercedes-Benz überlässt damit jegliche Deutungshoheit zum Thema "Sportwagen" ganz den Performance-Profis aus Affalterbach. Der neue SL wäre eine letzte Möglichkeit für Daimler gewesen, eine sportliche Duftmarke zu setzen und genau die wurde nun – vermutlich ganz bewusst – an AMG weitergereicht. Das ist ein echtes Statement und – wenn man den Anspruch des SL auf 360 Grad-Technologieführerschaft kennt – auch eine bemerkenswerte Herausforderung. Zugespitzt ausgedrückt: Kompromisslose Autos zu entwickeln ist leichter, als die Entwicklung eines Autos, das größtmögliche Bandbreite zwischen Alltag und Fahrspaß, Sportlichkeit und Komfort besitzen soll. Anscheinend unterstellt man in den Mercedes-Vorstandsetagen AMG mittlerweile genau diese Kompetenz zum fein choreografierten Kompromiss. Und sieht in der AMG-Perspektive anscheinend auch eine Chance für die gesamte SL-Idee. Denn eines können sie in Affalterbach nicht: konturlose Autos bauen. Für den SL wäre das leider ein denkbares Schicksal gewesen: Noch komfortabler, noch funktionsmächtiger, noch inszenierter. Mit der Folge, dass sich Emotion und Funktion am Ende gegenseitig auslöschen, weder Sinnlichkeit und Nervenkitzel bei einer Testfahrt wie dieser erlebbar sind, noch State-of-the-Art-Technologien in den Bann ihrer zwingenden Logik ziehen können. AMG hat diese Gefahr mit einem klaren Konzept gebannt: Der neue Mercedes-AMG SL (2022) ist nun auf die alte Kernidee des sinnlichen und sportlichen Genuss-Fahrens zurückreduziert worden, er ist dem alten 300 SL Roadster damit wesensverwandter als die späteren Generationen, ehrt aber auch deren mondäne Coolness.
Neuen Mercedes-AMG SL (2022) 476 oder 585 PS stark
Ganz konsequent gibt es ihn nur mit AMG-Motoren: Als 585 PS (430 kW) starken SL 63 und als SL 55 mit 476 PS (350 kW), in beiden Fällen handelt es sich um den bekannten Vierliter-Biturbo-V8, gepaart mit dem AMG-eigenen Speedshift-Neunstufen-Automatikgetriebe. Ob zu einem späteren Zeitpunkt ein moderater Dreiliter-Reihensechszylinder oder gar die für den kommenden C 63 gedachte Vierzylinder-Plug-in-Hybrid-Kombi ihren Weg in den SL findet, lässt sich die AMG-Mannschaft nicht konkret aus der Nase ziehen. Allerdings scheint man der Idee eines milden Einstiegs-SL auf motorisch schlankem Fuß durchaus etwas abzugewinnen. Weitere Eckpunkte des SL: Allradantrieb ist ebenso Standard wie die aktive Hinterachslenkung HAL, ein konventionelles Stahlfederfahrwerk mit adaptiver Verstelldämpfung und – im SL 63 – mit semiaktiver Wankstabilisierung haben die AMG-Ingenieur:innen einer Luftfederung vorgezogen. Bevor wir zur ersten Testfahrt aufbrechen, noch das Interieur: Das Cockpit verbindet ein schlankes und funktionales Layout mit der Theatralik eines übergroßen Hochformat-Touchscreens – bei Letzterem blitzt wieder etwas vom Overengineering der letzten SL-Modellreihen durch: Vom internationalen Zeitgeist ins Auto gespült, wird die Glasscheibe des Infotainment-Displays beim offenen Fahren zur sonnenreflektierenden und damit "blendenden" Angelegenheit, um dieses Problem zu lösen, kann das Display je nach Sonnenstand um mehrere Grad geneigt oder steiler gestellt werden. Mit ordentlichem Aufwand Probleme lösen, die man einfach auch durch "Weglassen" eliminieren könnte, das erinnert ja schon etwas an die zwei letzten SL-Generationen. Ansonsten ist der neue Mercedes-AMG SL (2022) aber ein bemerkenswert charaktervolles, gut gedachtes und starkes Auto.
Komfort und Dynamik – der gelungene Spagat des neuen Mercedes-AMG SL (2022)
Der bärenstarke Vierliter-V8 des von uns gefahrenen SL 63 4Matic+ drückt bei der ersten Testfahrt mächtig voran, grummelt mit saftigem Drehzahlkeller-Schub und für AMG-Maßstäbe angenehm zurückhaltender Soundkulisse los, grantelt sich dann durch eine vehemente Drehzahlmitte und reißt obenraus immer noch stürmisch an. Dass man sich mit infantilem Eifer durch allerhand Fahrprogramme von "Glätte" über "Comfort" und "Sport" vom urbanen Schaulaufen bis ins Kurven-Wunderland zoomen kann, ist man bei AMG vermutlich dem Individualitäts-Willen der internationalen Kundschaft schuldig, "Sport+" und "Race" gibt es ebenfalls, aber da fällt einem dann beim besten Willen niemand ein, der das ernsthaft brauchen könnte. Spätestens "Race" fühlt sich an, wie der Versuch einen ernsthaften Dialog mit jemandem zu führen, der einen die ganze Zeit nur hysterisch anschreit. Dabei hat der neue Mercedes-AMG SL (2022) wirklich etwas zu sagen: Er fährt mit wohlkomponierter Geschmeidigkeit, die man gerne als ausgewogenen Komfort interpretieren kann, pfeilt mit Donner und Gloria über die Langstrecke, gibt sich im Alltagshandling herrlich unsperrig und wenn es auf Kurvenkilometer geht, versinkt er in rundem, sämigem Swing. Präzise, balanciert, präsent. Dass der neue SL nun wieder ein klassisches Stoffverdeck trägt, ist sowohl der aktuellen und traditionellen Cabrio-Mode geschuldet, als auch dem Umstand, dass man modernen Verdeck-Konstruktionen nun wirklich überhaupt keinen Komfort-Nachteil gegenüber Blechdächern nachweisen kann. Der neue Mercedes-AMG SL (2022) unterstreicht das eindrucksvoll. Und die wiederbelebte 2+2-Konfiguration mit zwei Notsitzen im "Fond" dürfte eher ein Tribut an lässiges "Tennistaschenhintenreinwerfen" sein, als ein Zugeständnis an die Mobilitätsbedürfnisse von Familienmenschen. Aber am Ende hat den SL ja immer schon ausgemacht, ein freundliches und offenes Wesen zu haben. Auch darin ist der Neue ein echter SL.
Technische Daten des neuen Mercedes-AMG SL (2022)
AUTO ZEITUNG 03/2022 | Mercedes-AMG SL 63 4Matic+ |
Technische Daten | |
Motor | 4,0-Liter-V8-Biturbobenziner |
Getriebe/Antrieb | 9-Stufen; Automatik; Allrad |
Leistung | 430 kW/585 PS |
Max. Drehmoment | 800 Nm |
Karosserie | |
Außenmaße (L/B/H) | 4705/1915/1353 mm |
Leergewicht/Zuladung | 1970/320 kg |
Kofferraumvolumen | 213 bis 240 l |
Fahrleistungen (Werksangaben) | |
Beschleunigung (0-100 km/h) | 3,6 s |
Höchstgeschwindigkeit | 315 km/h |
Verbrauch auf 100 km (Werk) | 12,7 bis 11,8 l SP |