Volvo XC40 im Stahlwerk von ThyssenKrupp In vier von fünf Autos steckt Thyssen-Stahl
Oft wurde schon das Ende des Stahls im Autobau prophezeit. Doch der vielseitige Werkstoff ist noch immer das Material der Wahl. Warum, zeigt ein außerordentlicher Besuch mit dem Volvo XC40 im Stahlwerk von ThyssenKrupp.
An abenteuerlichen Ideen für Automobil-Geschichten mangelt es in einer Fachredaktion nie. Einmal mit dem Elektroauto um die Welt fahren. Oder ein Beschleunigungsrennen zwischen Supersportwagen und Kampfjet. Wie weit würde es wohl ein Serien-Geländewagen bei der Dakar-Rallye schaffen? Doch meistens müssen Sätze, die in einer Konferenz mit "Könnten wir nicht einmal …?" beginnen, mit "Das funktioniert nicht!" beantwortet werden. Diese Geschichte hier funktionierte aber – wenngleich die Idee zunächst viele furchtsame Gesichter zur Folge hatte: Wir fahren mit einem Auto so nah wie möglich an seinen Ursprung. Dahin, wo aus rohem Eisenerz feinster Stahl gewonnen wird. Spektakulär! Man sah die Bilder schon direkt vor sich. Ein blank polierter Neuwagen vor dem Hochofen, der glühendes Metall ausspuckt. Riesige Behälter, die lodernde Schlacke in einem Feuerwerk entleeren wie in einem Science Fiction. Et voilá: Hier sind sie – die Fotos! Und mit ihnen unvergessliche Eindrücke, die jeder Automobilfan einmal im Leben am eigenen Leib erfahren sollte. Der Besuch in einem Stahlwerk öffnet einem die Augen. Vor allem, weil man sich wohl noch nie so klein und ehrfürchtig gefühlt hat wie auf dem Boden dieser gigantischen Industrieanlagen. Unermesslich große Hallen, durch die leuchtend heiße Riesentöpfe schweben. So gewaltig wie ganze Häuser. Gefüllt mit 400 Tonnen flüssigem Eisen. Als wären es die Schöpfkellen von lavaschlürfenden Giganten. Und hier wollen wir der Frage nachgehen, ob der Jahrtausende alte Werkstoff auch in Zukunft noch als Rückgrat der Automobilindustrie bestehen kann.
Making of des Besuchs bei ThyssenKrupp:
Der Volvo XC40 im Stahlwerk von ThyssenKrupp
Nach drei Tagen in der größten integrierten Hütte Europas – dem ThyssenKrupp-Stahlwerk im Duisburger Norden – können wir diese Frage eindeutig beantworten: Moderner Stahl bleibt aus den verschiedensten Gründen der Werkstoff erster Wahl beim Automobil. Doch der Reihe nach. Wir hätten mit fast jedem beliebigen Auto zu ThyssenKrupp fahren können. Denn in nahezu allen hätten wir mindestens ein Bauteil gefunden, dass seinen Ursprung genau hier hat – in Duisburg. Doch der neue Volvo XC40 eignet sich besonders für dieses heiße Unterfangen. Zum einen, weil der Kontrast seiner eisblauen Lackierung "Bursting Blue Metallic" zu dieser rotglühenden Umgebung nicht krasser sein könnte. Zum anderen, weil er doch demonstriert, dass es nicht nur eine Stahlsorte für ein Auto oder gar eine Marke gibt. Jeder Autohersteller bezieht die unterschiedlichsten Stähle aus unterschiedlichsten Quellen. Und das dürfte seit Beginn der Fließbandproduktion so sein. Beim neuen Volvo XC40 werden beispielsweise die Seitenwände, die Heckklappe oder die Türinnenbleche aus Stahl von ThyssenKrupp gefertigt. Die Schweden legen dabei großen Wert auf besonders feste Stähle, die für sicherheitsrelevante Bauteile wie A- und B-Säulen benötigt werden und durch die sogenannte Warmumformung entstehen. Auch diese kommen oft aus Duisburg. Der Mythos des reinen "Schwedenstahls" – er ist spätestens jetzt entzaubert. Dabei gibt es kaum eine Automarke, die ThyssenKrupp Steel nicht auf der Versorger-Liste hat. Duisburg beliefert nahezu alle Hersteller der Welt. Und in vier von fünf neu produzierten Autos steckt Stahl von hier. Auf der anderen Seite hängt die Sparte des Unternehmens auch an der Automobilindustrie.
Stahlwerk produziert 30.000 Tonnen flüssiges Roheisen täglich
Über 40 Prozent der in 2017 rund 11,4 Millionen produzierten Tonnen fließen jährlich in die Entstehung neuer Autos. ThyssenKrupp hat sich dabei vor allem mit hochwertigen Flachstahlprodukten und hochfesten Stählen einen Namen gemacht. Doch was passiert eigentlich, bevor die Kunden ihre aufgerollten Bleche in sogenannten Coils (Rollen) auf den Hof geliefert bekommen? Um eines der größten integrierten Hüttenwerke der Welt zu füttern, bedarf es zunächst zweier Grundstoffe: Eisen und Kohle. Beides wird in Duisburg per Schiff angeliefert, denn die Mengen sind so gewaltig, dass es täglich etwa 40 Güterzüge bräuchte, um die vier aktiven Hochöfen zu stopfen. Für Eisenerze und Kohle gibt es wie beim Rohöl einen Weltmarkt mit mittlerweile stark schwankenden Preisen. Rohstoffe aus Deutschland werden längst nicht mehr verarbeitet. Alles wird von Rotterdam, Amsterdam oder Antwerpen über die hauseigene Rheinflotte verladen. Und so gelangen täglich allein 60.000 bis 80.000 Tonnen Erze und Kohle auf Schubleichtern in den Hafen an der Binsheimer Rheinschleife. Mehr als die Hälfte aller in Nordrhein-Westfalen vom Rhein entladenen Güter landet hier – 30 Millionen Tonnen im Jahr. Direkt am Hafen wird aus der Kohle Koks gemacht. Die Anlage Schwelgern gehört mit ihren 140 Koksöfen zu den modernsten und größten Kokereien der Welt. Zusammen mit dem gesinterten Eisenerz wird das Koks an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr als sogenannter Möller vollautomatisch den Hochöfen zugeführt, wo beide Grundstoffe unter Sauerstoffzufuhr und Temperaturen von bis zu 2000 Grad reagieren. Das Koks reagiert mit dem Eisenerz, das Eisen schmilzt. Und so entstehen am Tag mehr als 30.000 Tonnen flüssiges Roheisen. Dieses enthält allerdings noch so viel Kohlenstoff, Schwefel und Phosphor, dass ein weiterer Prozess durchlaufen werden muss: das Aufblasen mit Sauerstoff (Frischen).
Mehr als 2000 Stahlsorten bei ThyssenKrupp
Erst wenn der Kohlenstoffanteil durch die Oxidation auf 0,1 Prozent oder weniger gesunken ist, hat man Stahl erzeugt. Und es wird noch komplizierter: Denn verschiedenste Legierungen (Zusatz von anderen Metallen), Gieß- und Walztechniken, Glühund Abkühlungsprozesse sowie Kalt- und Warmumformung geben dem Stahl erst seine spezifischen Fähigkeiten. Je nach Anforderung lassen sich also Festigkeit, Elastizität oder gar Rostbeständigkeit beliebig einstellen. Mehr als 2000 Stahlsorten hat ThyssenKrupp im Sortiment. Und auf Wunsch werden in enger Zusammenarbeit mit den Kunden auch neue Sorten entwickelt – sei es für die neuartigen Anforderungen der Batteriesicherheit bei Elektroautos, Hitze- und Korrosionsbeständigkeit in Auspuffanlagen oder hochfeste Strukturen für Fahrgastzellen. In Duisburg kann nahezu alles entwickelt, hergestellt und getestet werden, denn die Forschungs- und Entwicklungsabteilung besitzt ein eigenes Labor mit allen erdenkbaren Fertigungstechniken. Hier können Autohersteller beispielsweise ihre Schwellerstrukturen schon vor der Massenproduktion auf Crashsicherheit prüfen. Oder sie können Arbeitsaufwände verschiedener Fertigungstechniken vergleichen – wie das Tiefziehen mit dem "Töpfern" in der Warmdrückwalzanlage. Der Stahl selbst inszeniert sich dabei stets mit drei wesentlichen Vorteilen gegenüber den Konkurrenz-Werkstoffen wie Aluminium, Magnesium oder faserverstärkten Kunststoffen (Karbon): Er ist günstiger, einfacher zu verarbeiten und lässt sich zu nahezu 100 Prozent recyclen. So kann aus unserem Volvo also irgendwann wieder ein neues Auto werden. Doch noch muss das Recycling warten, denn der XC40 hat die spektakuläre Tour durchs Stahlwerk ohne Blessuren überstanden. So ein Abenteuer kann man als Besucher übrigens selbst einmal mitmachen. Eine Führung durch ein integriertes Stahlwerk sollten zumindest Automobilfans erlebt haben. Es muss ja nicht unbedingt gleich mit dem Auto sein …