VW Golf GTI mit Steer-by-wire: So war die erste Testfahrt
Der Mensch denkt, die Elektronik lenkt
Die gute alte Lenksäule hat bald ausgedient. Schon in naher Zukunft wird rein elektrisch gelenkt werden. Eine Testfahrt im VW Golf GTI, von Bosch zum Entwicklungsträger für das hauseigene Steer-by-wire-System umgerüstet, zeigt, dass man davor keine Angst haben braucht.
Steer-by-wire: Der Lenkbefehl wird in ein elektronisches Signal übersetzt
Elektrisch lenken? Gibt es doch längst! Nun ja, das ist im Grunde richtig, aber es betrifft die Lenkunterstützung, vulgo Servolenkung, die seit Jahren nicht mehr hydraulisch, sondern elektrisch agiert. Der nächste Schritt nennt sich Steer-by-wire, wörtlich übersetzt Lenken per Kabel. Damit wird dann die Lenksäule überflüssig, denn als Übertragungsweg für einen Lenkimpuls wird sie nicht mehr gebraucht. Das machen Sensoren, die über den Lenkwinkel und die Drehgeschwindigkeit des Lenkrads wachen und diese Informationen via Kabel an ein Steuergerät weiterreichen, mittlerweile besser. Das Lenkmoment wird dabei nicht von einem Servomotor verstärkt wie bei einer herkömmlichen Lenkung, sondern vollständig von zwei elektrischen Aktuatoren erzeugt. Technisch ginge es auch mit nur einem Aktuator. Aus Sicherheitsgründen aber verlangt der Gesetzgeber, dass die Lenkung bei Ausfall redundant ist, ähnlich wie ein klassisches Zweikreis-Bremssystem.
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Ein paar vollelektrische Lenksysteme gibt es schon. Aber nicht bei uns
In der Serie angewandt wird das bereits vom Tesla Cybertruck, der aber in Europa noch nicht homologiert ist. Auch der Infiniti Q50 wurde hierzulande kurzzeitig mit einem Steer-by-wire-System verkauft, in homöopathischen Dosen. Doch der Japaner besaß noch eine Lenksäule als Back-up für das elektrische Lenksystem. Manche Vorteile der rein elektrischen Lösung kamen so nicht zum Tragen: Eine Lenksäule erfordert viel Bauraum, ist relativ schwer und im Kollisionsfall potenziell gefährlich. Ganz zu schweigen vom konstruktiven Aufwand, den man treiben muss, wenn ein Auto zugleich als Links- und als Rechtslenker angeboten wird. Auch im Lexus RZ450, den es ab 2025 wahlweise mit vollelektrischer Lenkung geben wird, wird dieses Potential nicht ausgeschöpft.
Testfahrt: Der Bosch-Prototyp ist nahezu serienreif – und fühlt sich auch so an
Im VW Golf GTI, der der Bosch-Entwicklungsabteilung als Versuchsträger dient, zeigt sich das System bereits nahezu serienreif. Bei der Testfahrt im Normalmodus ist es schwierig, Unterschiede zum Serien-Golf auszumachen. Aber die potenziell enorme Spreizung der elektrischen Lenkung ändert das auf Tastendruck. Im Komfortmodus wird die Lenkung sehr leicht. Der GTI lässt sich mit einem Finger um den engen Hütchenparcours auf dem Versuchsgelände in Renningen dirigieren.
Dennoch fühlt sich das Volant nicht synthetisch an wie eine billige Spielkonsole. Eine Lenkung ist ja keine Einbahnstraße. Sie dient nicht nur zum Übertragen eines Lenkmoments an die Vorderräder, sondern gibt auch Rückmeldung über die Fahrbahnbeschaffenheit und die Dynamik des Autos. Wenn sie bei schneller Kurvenfahrt verhärtet, dann plötzlich sehr leicht wird, ist man am Steuer gewarnt: Die Haftung reißt ab, der Übergang vom Kraftschluss zwischen Reifen und Straße ins Gleiten kann in einen schönen Drift münden, aber auch am nächsten Baum enden. Im Zweifel eine lebenswichtige Information. Beim Versuchs-Golf ist diese Rückmeldung im Komfortmodus noch vorhanden, aber deutlich reduziert. Selbst beim einseitigen Überfahren einer Temposchwelle zuckt das Lenkrad kaum, zeigt sich von dem groben Buckel beinahe unbeeindruckt.
Anders im Sportmodus, pardon: Dynamic Mode. Der gleiche asymmetrische Impuls dringt plötzlich klar bis in die Fahrerhände vor. Alles wird erheblich spitzer und direkter. Um die Vorderräder um ein Grad einzulenken, bedarf es nicht mehr 14 Winkelgrade am Lenkrad, sondern nur noch sieben. Die beiden Lenkanschläge sind nun durch weniger als eine Umdrehung des Steuers voneinander getrennt, gegenüber zwei vollen Runden im Komfortmodus. Fühlt sich fast an wie ein Formel 1-Renner! Damit wäre es möglich, kleinere und praktisch rechteckige Lenkräder einzusetzen, wie etwa das Yoke bei Tesla. Für einen sportlichen Golf wäre das definitiv eine Option, aber nicht verpflichtend.
"Das Schönste an dem System ist, dass man es ganz nach Geschmack konfigurieren kann", sagt Matthias Albrecht, bei Bosch mit der Entwicklung der vollelektrischen Lenkung betraut, bei unserer Testfahrt. In Zukunft könne man daher nicht nur die Stärke der Lenkunterstützung oder die Finesse der Rückmeldung bestimmen, sondern sogar das Übersetzungsverhältnis frei definieren. Und wenn das Steer-by-wire-System schon bei der Konzeption des Autos integriert werde, ergäben sich weitere Vorteile. Die Lenkung ließe sich vernetzen mit der Bremse und etwa aktiven Dämpfern, was dem Komfort, der Sicherheit und nicht zuletzt dem Fahrspaß zugutekäme. Auch fürs autonome Fahren ist eine vollelektrische Lenkung von Vorteil, denn das Lenkrad muss sich beim Stromern im Autopilotmodus nicht mitdrehen. Schöner Nebeneffekt: Bei frühzeitiger Integration in die Entwicklung wäre die rein elektrische Lenkung sogar billiger als ein System mit Lenksäule.
Sicherheitsanforderungen drastisch
Dabei sind die Sicherheitsanforderungen drastisch. Elektrisch oder nicht, im Gegensatz zu einem Fensterheber oder einem Navigationssystem darf eine Lenkung niemals ausfallen. "Alle Sensoren und die Aktuatoren sind deshalb mindestens doppelt vorhanden. Wir brauchen auch zwei voneinander unabhängige Stromquellen", sagt der Bosch-Entwickler. Letzteres prädestiniert die elektrische Lenkung für Hybrid- oder Elektromodelle, die mehr "Saft" an Bord haben. Doch auch für klassische Verbrenner wird Steer-by-wire bald zum Serienstand gehören. Bosch möchte sein elektrisches Lenksystem bis Ende 2027 in den Markt einführen. Ob im Golf oder in einem anderen Modell, wird noch nicht verraten.