Rolls-Royce Silver Cloud I Drophead Coupe: Fahrbericht Auf Wolke sieben
Souverän, episch, selten: Nur 22 Exemplare des Rolls-Royce Silver Cloud I wurden von H. J. Mulliner als Drophead Coupé aufgelegt. Fahrbericht
Gemessen an heutigen Zündschlüssel-Kunstwerken im Hosentaschen ausbeulenden Handgranaten-Format ist der scharfkantige Blechpressling für das Zündschloss des Rolls-Royce Silver Cloud I von 1957 eine erstaunlich desillusionierende Erscheinung:
Hakelnd findet er seinen Weg ins Schloss, mit leichtem Rütteln schafft es dieser bessere Dietrich tatsächlich, die Zündung des 300.000 Euro-Klassikers auf On zu schalten.
Schlanke Zeiger in dunklen Rundinstrumenten schnappen zitternd in Position, die Tankanzeige kriecht auf Dreiviertelvoll, eine unruhig pulsierende Motor-Kontrollleuchte zeigt prinzipielle Einsatzbereitschaft.
GENUG IST GENUG – EIN ROLLS-ROYCE MACHT GENÜGSAM
Entschlossener Schlüsseldreh, gleichzeitig zartes Pumpen am Gaspedal, und nach wenigen Umdrehungen springt der großvolumige Reihensechszylinder schnüffelnd an.
Wenige Sekunden ziert sich die fast 60 Jahre alte Maschine, läuft nur rappelnd rund, dann verfällt sie in stoisch trommelnden Leerlauf. Das große Lenkrad liegt kaum dicker als ein Füllfederhalter in den Fingern, der Blick schweift über eine in Taubengraublau lackierte, episch lange Motorhaube.
Ganz vorne segelt der Geist der Ekstase bereits selbstvergessen im imaginären Fahrtwind einem weit entfernten Horizont entgegen. Bedächtig wird nun der Getriebe-Wählhebel rechts des Lenkrads auf „Fahrt“ gestellt, man erledigt das mit den Fingerspitzen, andächtig und zart.
Ein weiches Rucken geht durch den Silver Cloud, unwiderstehliche Energie brandet nun gegen das gedrückte Bremspedal, die Botschaft ist klar: Leinen los! Majestätisch setzt sich das große Cabriolet in Fahrt, rollt beinahe tastend über die Strandpromenade.
Erst mal einschwingen und hineinfühlen in die alte Maschine, bevor wir in die Berge hinaufziehen. Wir lauschen dem kernigen Orgeln des Motors, nehmen wahr, wie willig er am Gas hängt, wie kurz die Leine ist, an der er das mächtige Automobil führt:
Auch wenn die antiquierte Technik des alten Reihensechszylinders mit seinen hängenden Einlass- und stehenden Auslassventilen und der unten liegenden Nockenwelle nicht gerade für nackte Gewalt stehen mag, hat der enorme Hubraum den Luxus-Cruiser doch fest im Griff.
Ein Silver Cloud I marschiert nicht gerade urgewaltig, aber die harmonische Leistungscharakteristik passt ausgezeichnet zum Fahrzeugcharakter. In den Dokumentationen früherer Rolls-Royce-Generationen fehlen Angaben zur Motorleistung völlig, interessierte Nachfragen soll das Werk stets mit einem nonchalanten „Genug“ beantwortet haben – ein Hinweis, der von Unwissenden stets so interpretiert wurde, dass die mächtigen Motoren „mehr als genug Leistung“ hätten.
Dass dabei aber stets eine sehr reife Form der Zufriedenheit angesprochen und nicht etwa mit Omnipotenz geprotzt wurde, gehört zu den speziellen Codes der Marke:
Ein Rolls-Royce ist das Über-Auto des Intellektuellen und Weisen
Im „Genug“ steckt ein leiser Tadel, der den unreif nach Superlativen Hungernden auf den ruhigen Pfad der Genügsamkeit schicken möchte – oder zum nächsten Lamborghini-Händler, Pferdestärken kaufen.
Diesen philosophischen Exkurs gibt es übrigens auch nonverbal und ganz handfest beim Druck aufs Gaspedal des Silver Cloud I:
Der Sechszylinder drängt sich nicht in den Vordergrund, aber das Triebwerk verflüssigt dieses Monument von einem Automobil so authentisch und unaufdringlich, dass man nach wenigen Metern ganz im Genug aufgeht und bereit ist, die Sinne auf andere, wesentlichere Dinge zu lenken.
Das stille Seufzen der Beifahrerin etwa, die mit geschlossenen Augen dem warmen Strom des Fahrtwinds huldigt, dabei die bloßen Füße tief in den weichen Teppich gräbt, mit den Fingerkuppen der Linken zart über den spiegelglatten Wedgewood Blue-Lack sowie die feinst mit Intarsien eingefassten Zierhölzer der Tür brüstungen streicht und gleichzeitig die Rechte aufs mürbe Leder der ausladenden Sitzpolster stützt.
Der Silver Cloud deutet auch vorne eine durchgehende Bank an, man kann die Armlehnen hochklappen – zuerst die eigene, dann die andere – und sich nun genüsslich an die Schulter des Fahrers lehnen.
Der wird einem natürlich den starken Arm um die Schultern legen, denn die Lenkung des Silver Cloud läuft so butterweich, dass sie geradezu nach einhändiger Bedienung schreit.
Dabei ist aber auch der Platz im Fond nicht zu verachten: Während moderne Viersitzer-Cabriolets ihre Passagiere mit skurrilen Package-Situationen beleidigen, sie in enge Gruben ohne jede Beinfreiheit und mit sonderbar steil stehenden Fondsitzlehnen zwängen, ist das Leben im Heck des Silver Cloud wirklich zuckersüß zu nennen.
Aufrecht hineinschreiten, sich in die tiefen Polster werfen und dabei an den im selben Jahr (1956/57) entworfenen Lounge Chair von Charles & Ray Eames denken. Exponiert wie Königin und Kaiser sitzt man hier im Wind und lacht schallend über nackenheizende, windschottende Verklemmtheiten der Moderne.
Wer im Silver Cloud keinen Wind verträgt, sollte das Stoffdach schließen. Basta. Nun ist es durchaus anzunehmen, dass die 22 vom britischen Karosseriebauer H. J. Mulliner auf Kiel gelegten Drophead Coupés tatsächlich nur in absoluten Sonnenregionen ihren angenehmen Dienst versehen mussten und bei den ersten Anzeichen einer Wetter-Eintrübung durch einen geschlossenen Wagen ersetzt wurden.
Die Frage nach Allwetter-Qualitäten stellt sich also weniger. Dabei muss ehrenhalber aber angemerkt werden, dass am nicht in Bildern dokumentierten Ende unserer Italien-Testfahrt tatsächlich Scheibenwischer und Stoffverdeck ihres Amtes walten mussten und der Silver Cloud mit großer Souveränität – vor allem aber weitestgehend wasserdicht – durch sintfl utartige Gewitter stürmte. Und das ist ein wirkliches Kompliment!
DIE WIRKLICH HOHE SCHULE DES KAROSSERIEBAUS
Edle Holzarbeiten, elegante Blech-Spenglerei und feines Kürschner-Handwerk können Viele – ein 5,3-Meter-Cabrio dicht zu kriegen ist aber wirklich die hohe Schule des Karosseriebaus.
Es wundert also kaum, dass Rolls-Royce den Coachbuilder H. J. Mulliner 1961 übernahm und mit dem so eingekauften Knowhow endgültig zum Bauen kompletter Autos überging.
Das Rolls-Royce Silver Cloud I Drophead Coupé ist also nicht nur durch seine geringe Stückzahl ein exklusives Vergnügen, sondern vor allem, weil es die letzten Merkmale einer Ära in höchster Perfektion verband: Sein zuverlässiger Reihensechszylinder musste den V8-Maschinen der nächsten Epoche weichen, zukünftige Rolls-Royce wurden mit moderner, selbsttragender Karosserie gefertigt, damit war auch die Tradition des individuellen Karosseriebaus auf Rahmenchassis Geschichte.
ROLLS-ROYCE SILVER CLOUD I DROPHEAD COUPE (Bj.: 1955-59): Technische Daten und Fakten |
R6-Zylinder; vorn längs eingeb.; 2-Ventiler; untenl. Nockenw.; Hubraum: 4887 cm3; Leistung: ca. 114 kW/155 PS bei 4000/min; max. Drehm.: k. A.; Vierstufen-Autom.; Hinterradantr. |
Aufbau und Fahrwerk Leichtmetallkarosserie auf Stahlrahmen; Radaufhängung vorn: Dreiecklenker, Schraubenfedern; hinten: Starrachse an Blattfedern; v./h. Stoßdämpfer; Bremsen: v./h. Trommeln; Reifen: 8.20 x 15 |
Eckdaten L/B/H: 5385/1899/1626 mm; Radstand: 3124 mm; Leergewicht: 1699 kg; Bauzeit: 1955 bis 1959; Stückzahl: 22; Preis (1957): ca. 60.000 Mark |
Fahrleistungen1 Beschleunigung: k. A.; Höchstgeschwindigkeit: 170 km/h; Verbrauch: k. A. |
MARKTLAGE
Zustand 2: 210.000 Euro
Zustand 3: 122.500 Euro
Zustand 4: 92.000 Euro
Wertentwicklung: leicht steigend
Definition der Zustandsnoten
Als einer der letzten Rolls-Royce der glamourösen Coachbuilder-Ära versprüht der Silver Cloud I alle Detailverliebtheit seiner Epoche. Er wirkt auch noch nahezu 60 Jahre nach seiner Zeit ungemein robust, in sich ruhend und souverän. Sein kraftvoller Reihensechszylinder und das komfortable Fahrwerk prägen den Grundcharakter, für die aufwändige Ausführung als mehrsitziges Drophead Coupé muss dem Karosseriebauer H. J. Mulliner ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt werden. Mit lediglich 22 gebauten Exemplaren gehört das Silver Cloud I-Cabriolet zu den exklusivsten Automobilen überhaupt – gemessen daran ist es überdies von bestechend unverzärteltem Charakter.
Johannes Riegsinger