VW Golf Diesel: AUTO ZEITUNG-Rekordauto von 1977
Als der Golf Diesel 31 Weltrekorde brach
Kein Modell hat die AUTO ZEITUNG häufiger getestet als den VW Golf. Wir erinnern uns an die härteste Prüfung des Wolfsburgers anno 1977 mit dem ersten VW Golf Diesel: Eine 50.000 km lange Vollgasfahrt, die 31 Weltrekorde aufstellen sollte.
Wir schreiben den 4. Januar 1977: Es ist eine bitterkalte, stockfinstere Nacht im südfranzösischen Miramas. Ein weißer, sporadisch beklebter VW Golf Diesel zieht einsam seine Runden um das scheinbar endlose Betonoval. Alle zweieinhalb Minuten passiert er den grell beleuchteten Shell-Tanklaster und die danebenstehenden Camper des AUTO ZEITUNG-Teams. Gegen 22:30 Uhr soll der Kompakte reinkommen, Fahrerwechsel und Tankstopp stehen an. Dann der Schock: Die Zapfpistole ist defekt – und der Golf fährt mit gähnend leerem Tank langsam aber sicher dem vorzeitigen Ende einer irrwitzigen Rekordjagd entgegen, die erst am frühen Nachmittag unter beispiellosem Aufwand begonnen hatte.
Um zu verstehen, was hier gerade passiert, müssen wir noch etwas weiter zurückreisen in die Vergangenheit: Im September 1976 pflanzt VW erstmals einen Selbstzünder in den Golf. Die Vorurteile wiegen noch schwer auf dem schmierigen Treibstoff, doch das öffentliche Interesse ist mittlerweile erheblich angewachsen. Die Ölkrise 1973 hatte Deutschland und der Welt erstmals vor Augen geführt, dass der Traum von der Freiheit auf vier Rädern von nun an Bedingungen geknüpft ist, allen voran an den Spritverbrauch. Dazu gesellen sich die ersten Schadstoff-Grenzwerte in den USA, die Dieselmotoren – im Gegensatz zu Benzinern – von Natur aus deutlich unterbieten können.
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Rekordverdächtige AUTO ZEITUNG-Tort(o)ur mit dem VW Golf Diesel
Der Weg des Diesels in den VW Golf verfolgt deshalb auch die AUTO ZEITUNG mit Neugier und Skepsis zugleich. Immerhin ist die Technik bislang vornehmlich aus nagelnden Nutzfahrzeugen und den nicht zu Unrecht "Wanderdüne" getauften Mercedes-Taxis bekannt. Und kann der Motorblock des Kompakten, der eng mit dem Benziner verwandt ist, wirklich dauerhaft die hohe Verdichtung des Selbstzünders aushalten? Dieser und vielen weiteren Fragen auf der Spur, schickt die AUTO ZEITUNG den VW Golf Diesel ab dem 4. Januar 1977 mit insgesamt 14 rotierenden Testkollegen zum großen Oval des Reifentestgeländes von Klebér im französischen Miramas, das seit 1986 in der Hand von BMW ist.
Dort erwartet die Mannschaft nicht nur die gut fünf Kilometer lange Betonstrecke, auf der sich in den 20er- und 30er-Jahren Bugattis und Alfa Romeos duellierten, sondern auch Kommissare und Zeitnehmer des französischen Automobilsport-Dachverbandes (FFSA) und der Obersten Nationalen Sportkommission (ONS), ein Shell Renndienst-Tanker samt Techniker sowie der unnachgiebige Mistral. Letzterer schickt zuweilen orkanartige Böen von den Alpen über die topfebene Strecke bis hin zum Meer – als wären die Temperaturen um den Gefrierpunkt nicht schon unangenehm genug. Südfrankreich mal anders. Das technische Reglement sieht vor, dass nur fünf Prozent des Fahrzeuggewichts an Ersatzteilen mitgenommen werden dürfen, sodass man die verfügbaren 20 kg für eine Einspritzpumpe, eine Lichtmaschine, einen Zylinderkopf, einen Anlasser und etwas "Kleinkram" ausnutzt.
Defekte Tankanzeige und Diesel-Vollbad
Um Punkt 15 Uhr erfolgt der Startschuss, der VW Golf Diesel zieht quietschend davon und spult die ersten Meter der 50.000 km langen Vollgas-Tort(o)ur ab. Nach nur zwei Runden fällt der erste Rekord: Auf zehn Kilometern inklusive des stehenden Starts schafft der kleine Wolfsburger 123,753 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Bis auf die überraschend reifenmordende Strecke, den spritfressenden Gegenwind und einer defekten Tankanzeige scheint alles nach Plan zu laufen – bis zu besagter Szene in der ersten Nacht. Während ein Teil der Kollegen den Tanktechniker aus dem Hotelbett holen, machen sich andere mit Reservekanistern auf die Suche nach einer Tankstelle.
Die gute Nachricht: Der Techniker kann zwei durchgebrannte Sicherungen indentifizieren und den Kraftstoff mittels Notpumpe fördern. Die schlechte: Der Diesel läuft nun durch einen viel zu breiten Schlauch, dessen schierer Durchsatz Testredakteur Werner Müller ein "Diesel-Vollbad" beschert. "Meinen Overall habe ich noch vor Ort ein paar hundert Meter entfernt entsorgt. Je nach Windrichtung flog uns dessen Dieselnote auch Tage später noch entgegen", erinnert sich das AUTO ZEITUNG-Urgestein. "Der Geruch ist mir bis heute in der Nase geblieben."
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50.000 km Vollgas verbrauchen im Schnitt 8,39 l Diesel
Auch der VW Golf Diesel sollte nicht ganz ungeschoren davonkommen: Noch vor dem Morgengrauen derselben Nacht vermelden die Kollegen im Tagebuch, dass der Wolfsburger schon neun querende Hasen erlegt hat. Über die kommenden Tage und Nächte sollen noch einige weitere folgen. Dem bislang unkaputtbaren Selbstzünder kann der Wildwechsel aber nicht wirklich etwas anhaben. Gefährlicher sind da die dichten Nebelbänke und eisiger Regen. Um über die etwa zwei Stunden langen Stints konzentriert und überhaupt wach zu bleiben, hat man 80 Musikkassetten für das VW-Autoradio Typ "Ingolstadt" mitgebracht.
Und wie schon sein seeliger Vorgänger läuft und läuft und läuft der VW Golf Diesel. Die Tage vergehen, Redakteurs-Nachschub aus Köln löst die Belegschaft vor Ort mehrfach ab. Nach drei Tagen und 10.000 km fällt die erste Inspektion an: In nur 26:33,93 min werden die Einstelldaten des Vierzylinders untersucht, die Spur eingestellt, Öl und Reifen gewechselt. Auch die folgenden Inspektionen laufen nach Plan, sodass der Volkswagen am 21. Januar um 0:34 Uhr, nach 393 h und 34 min die 50.000 km-Marke knackt. 127,042 km/h fuhr das Team im Gesamtschnitt, 4195 l Diesel flossen auf dem Dauervollgas-Trip durch die Brennräume des Golf. Das ergibt einen Durchschnittsverbrauch von 8,39 l pro 100 km.
Nach 31 Rekorden jagt der Golf die 100.000-km-Marke
Am Morgen des 21. Januar 1977 legt die AUTO ZEITUNG-Mannschaft vor den Kameras des ARD-Fernsehteams einen letzten Sprint hin, um noch ein paar Kurzstreckenrekorde zu brechen, die wegen des schlechten Wetters zu Beginn der Ausnahmefahrt zuvor nicht realisierbar waren. Am Ende knackt der VW Golf Diesel alle 31 anvisierten Rekorde. Die anschließende Champagnerdusche währt allerdings nur kurz: Bereits wenige Tage später wird der Rekordwagen in Richtung USA verschifft, wo die Redakteure weitere 30.000 km in verschiedensten Klimabedingungen zwischen Mexiko und Kanada zurücklegen. Eine denkwürdige und kaum weniger spannende Geschichte.
Um die 100.000 km vollzumachen, darf sich der Golf anschließend noch im europäischen Alltagstress beweisen. Am 28. Juli 1977 taucht unweit von Lüttich (Belgien) dann die eins ganz vorne im Kilometerzähler auf. Auch die unabhängige Überprüfung aller Bauteile und vor allem Motorkomponenten belegt, dass der Golf Diesel noch für deutlich mehr Kilometer gut ist. Gesagt, getan: Quasi als Abschiedsgeschenk fährt die AUTO ZEITUNG mit ihm die Rallye Monte Carlo 1978 – und passiert als 83. im hinteren Mittelfeld die Ziellinie. Heute steht das Auto wohlverdient im Stiftung AutoMuseum Volkswagen. Selbstverständlich noch immer mit den Aufklebern und Spuren eines äußerst bewegten Autolebens.
Technische Daten des VW Golf Diesel
AUTO ZEITUNG 1977 | VW Golf Diesel |
Zylinder/Ventile pro Zylin. | 4/2 |
Hubraum | 1470 cm³ |
Leistung | 37 kW/50 PS 5000/min |
Max. Gesamtdrehmoment bei | 80 Nm 3000/min |
Getriebe/Antrieb | 4-Gang-Schaltgetriebe / Vorderrad |
L/B/H | 3705/1610/1410 mm |
Leergewicht | 805 kg |
Bauzeit | 1976-1983 |
Stückzahl | ca. 1 Mio. (Diesel-Golf I insg.) |
Beschleunigung null auf 100 km/h | 17,7 s |
Höchstgeschwindigkeit | 142 km/h |
Verbrauch auf 100 km | 6,6 l D |
Grundpreis (Jahr) | 11.660 Mark (1977) |
Beim Studieren der AUTO ZEITUNG-Rekordfahrt von 1977 mit dem VW Golf Diesel fragt man sich unweigerlich, wie die verheißungsvolle Technik 40 Jahre später im Kreuzfeuer des Dieselskandals derart in Verruf geraten konnte. Die ersten Risse im Image sollten aber tatsächlich nicht lange auf sich warten lassen: Zur Einführung des VW Golf GTD 1982 unternahm die Redaktion einen vergleichbaren Versuch auf dem Contidrom bei Hannover. Ein Motorschaden – möglicherweise hervorgerufen durch die Fliehkräfte in den Steilkurven und der damit verbundenen mangelnden Schmierung – beendete die Unternehmung vorzeitig.