Autoproduktion in Ungarn: Wirtschaft
Ungarns Autoparadies hat einen Haken
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán lockt die Autoindustrie in sein Land. Vor allem die deutschen Premiummarken gehen darauf ein. Die Autoproduktion in Ungarn hat aber ihren Haken.
Denkt man an große europäische Autonationen, fällt wohl niemandem Ungarn ein. Doch das kleine osteuropäische Land entwickelt sich in Rekordzeit zu einem bevorzugten Standort für die Autoindustrie. Wurden 2010 nur knapp über 200.000 Neuwagen in Ungarn produziert, waren es 2021 trotz Corona-Krise mit 413.750 Autos mehr als doppelt so viele. Bereits 2022 könnte Ungarn das Fiat- und Alfa Romeo-Land Italien bei der Autoherstellung überholen. Den Grundstein für die moderne Autoindustrie in Ungarn legte 1991 Suzuki: Die japanische Marke produzierte mit dem Swift in Esztergom gleich einen Bestseller. Im Lauf der Jahre liefen in dem Werk auch Modelle von Subaru, Fiat und Opel vom Band. Zwei Jahre später kam mit Audi der erste deutsche Autobauer ins Land. Zuerst wurden nur Motoren in Györ produziert, 1998 folgte mit dem Audi TT das erste Fahrzeug. Bis heute hat Audi über 11,95 Milliarden Euro in das Werk gesteckt und wurde damit zum größten ausländischen Investor in Ungarn – Györ stieg zum weltweit größten Antriebswerk des VW-Konzerns auf und fertigte 2021 über 1,6 Millionen Motoren. Gleichzeitig liefen im Fahrzeugwerk 171.015 Autos von den Bändern. Auch in der elektrischen Zukunft spielt Györ eine wichtige Rolle: Die neuen E-Motoren, die auf der konzernweiten Premium Platform Electric (PPE) zum Einsatz kommen, werden in Ungarn gefertigt. Mit Mercedes folgte 2012 der zweite deutsche Premiumhersteller. Seitdem produziert das Werk in Kecskemét Kompaktmodelle, etwa die A-Klasse. Der CLA wird sogar ausschließlich in Ungarn gebaut. Seit 2018 errichtet Mercedes eine zweite Fabrik am Standort und investiert dafür eine Milliarde Euro. In diesem weltweit ersten "Full-Flex Werk" des Konzerns können sowohl Verbrenner- als auch Elektro-Fahrzeuge auf einem Band gebaut werden. Und mit BMW engagiert sich nun die dritte deutsche Premiummarke in Ungarn: Bis 2025 errichtet der bayerische Autobauer in Debrecen ein neues Elektroauto-Werk, in dem dann die richtungsweisende "Neue Klasse" produziert werden soll. Insgesamt investiert BMW mehr als zwei Milliarden Euro in Viktor Orbáns Land. Auch interessant: Unsere Produkttipps auf Amazon
Das Aus für den VW Arteon (Video):
Autoproduktion in Ungarn in zwölf Jahren verdoppelt
Nicht nur dank Audi, BMW und Mercedes entwickelt sich Ungarn heimlich zum Mittelpunkt der E-Mobilität in Europa. Schon heute gibt es dort drei Batteriewerke von Zulieferern: Während die südkoreanische SK Group Fabriken in Komárom und Iváncsa betreibt, produziert Samsung in Göd. Und CATL, der chinesische Weltmarktführer für E-Auto-Batterien, errichtet eine Fertigung in Debrecen. Doch warum ausgerechnet Ungarn? Ministerpräsident Viktor Orbán lockt die Industrie mit günstigen Bedingungen: So ist der Körperschafts-Steuersatz mit neun Prozent in Ungarn so niedrig wie in keinem anderen EU-Land. Außerdem kostet eine Arbeitsstunde nur 10,6 Euro. Zum Vergleich: Deutschland liegt bei 36,7, Spanien bei 22,6 und Tschechien bei 14,0 Euro. Dazu kommen Milliardenförderungen durch die Regierung. Da Viktor Orbán Politik, Gerichte und Verwaltung des Landes weitgehend kontrolliert, gibt es zudem keinen offenen Widerspruch gegen Großbauprojekte – Genehmigungen werden in Rekordzeit erteilt. Auch die ungarischen Medien liegen auf der Linie des autoritären Politikers, kritische Fragen bleiben ungestellt. Diese "Standort-Vorteile" überdecken, dass Ungarn im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine niedrige Produktivität im Automobilsektor hat. So werden pro Arbeitskraft in Ungarn im Durchschnitt nur 4,4 Autos hergestellt. In Tschechien sind es dagegen 6,5, in der Slowakei schon zwölf und in Spanien sogar 14,1 Fahrzeuge. Zudem fehlen in Ungarn schon jetzt Fachkräfte für die Autoindustrie. Um den Boom nicht zu gefährden, wird selbst der Migrations-Gegner Viktor Orbán zu einem Freund ausländischer Zuwanderung: Von Subunternehmern werden bereits Arbeitskräfte aus Kasachstan und sogar aus der Mongolei angeworben. Das größte Problem für die Autoindustrie bleibt jedoch Viktor Orbán selbst: Der Autokrat ist aufgrund seiner Nähe zu Putins Russland und seines Vorgehens gegen Bürgerrechte und Meinungsfreiheit stark umstritten. Und in der EU führt er Ungarn seit Jahren immer weiter ins politische Abseits.
Ausgerechnet das in der EU isolierte Ungarn entwickelt sich zum Boomland der Autoindustrie – und das auch noch unter Federführung der deutschen Premiummarken. Es befremdet, dass gerade die hochpreisigen Hersteller Audi, BMW und Mercedes das Niedriglohnland Ungarn für ihre E-Auto-Produktion ausgewählt haben. Dafür nehmen sie zweifelhafte Rahmenbedingungen in Kauf. Und setzen auf Risiko: Denn gerade 2022 hat mit China und Russland gezeigt, wie wichtig politische Verlässlichkeit für eine Standort-Entscheidung ist.