Volvo P 1800 ES: Classic Cars
Sonne in der Nacht mit dem P 1800 ES
Unterwegs durch den Midsommar in Schweden: 23 Uhr und nur eine leise, sanft goldene Ahnung von Sonnenuntergang. Schlaflose, schwedische Nächte im Volvo P 1800 ES. Classic Cars-Reportage.
Süße Schlaflosigkeit. Die Welt in friedvollem Standby-Rhythmus. Kühe grasen in den Wiesen, heben dann langsam den Kopf, schauen aufmerksam und mit diesem sanften Supermodel-Blick unter langen Wimpern zu uns herüber. Eine Schar Wildgänse hat sich am Seeufer niedergelassen und träumt nun mit unter den Flügeln verborgenen Köpfen dem nächsten Tag entgegen. Braune Federbündel in struppigen Wiesen. Unser feuerwehrroter Volvo P 1800 ES verschwindet bereits gemächlich um die nächste Biegung und lässt das Nils-Holgersson-Diorama zwischen den hingestreuten Felsen hinter sich. Mehr zum Thema: Das ist der Volvo 164
Volvo P 1800 ES: Classic Cars
Metallisch knurrender Vierzylindermotor, entschlossener Tritt aufs Kupplungspedal, die rechte Hand lockt den langen Schalthebel aus Position drei in Richtung vier, während der Gasfuß einen schnellen Zwischengasstoß provoziert. Alte Autos mögen es fürsorglich, mit entschlossener Zartheit ist das hörbar mahlende Getriebe deutlich sinnstiftender zum Gangwechsel zu bewegen als mit tauber Gewalt. Kupplung kommen lassen, und der Zweiliter-Four packt schon wieder deftig zu: Muskulöses Drehmoment aus dem Drehzahlkeller, markante Lebensäußerungen – dieser Schwede ist eben kein weichgespülter fliegender Teppich, sondern ein ziemlicher Wikinger. Nur für den Fall, dass man sich vom eleganten Fluss der Shooting Brake-Karosserie atmosphärisch in die Irre hat führen lassen. In selbstbewusstem Trab geht es hinunter zum nächsten Talboden, ein schneller Knopfdruck aktiviert den elektrisch zuschaltbaren Overdrive. Eine Gedenksekunde später springt das zusätzliche Planetengetriebe ein und lässt die Motordrehzahl schlagartig auf Ruhepuls ticken. Mein linker Unterarm liegt längst im offenen Seitenfenster, das Lenkrad führe ich entspannt mit den Fingerspitzen. "Insomnia", denke ich lächelnd. "Schlafentzug, und das hier ist die angenehme Variante." – Seit heute morgen streifen der rote Volvo P 1800 ES und ich durch Bohuslän, die alte schwedische Provinz nördlich von Göteborg. Unter grauem Himmel hinaus aus der großen Stadt am Meer.
Mit dem "Schneewittchensarg" durch das Herz von Schweden
Doch gerade als wir die Festung Bohus am Nordufer der Nordre Älv passiert haben, taucht die Sonne auf: freundlich-hellblauer Sommerhimmel mit einer ganzen Herde von Schäfchenwolken, dazu angenehme Wärme, die von einem sanften Wind übers Land verteilt wird. Wohlige Gänsehaut vom Fahrtwind im Cockpit, entspanntes Blinzeln durch die Sonnenbrille. Kurz vor Stenungsund tropft der Volvo von der Bahn nach Norden, biegt in westlicher Richtung ab hin zum Meer. Ein Bogen über die Brücke zur vorgelagerten Insel Stenungsön, dann der Hüpfer hinüber zum Inselchen Källön, und schon segelt der P 1800 ES in luftiger Höhe über die große Tjörnbron-Brücke. Ein kleines Schiff am Himmel, getragen von der riesigen Stahlseil-Konstruktion, unter uns schwarzes Wasser zwischen bewaldeten Felsküsten. Gleich nach der Brücke schnurrt der Volvo auf die Aussichtsplattform am Sund, schließlich ist der Ausblick nach Nordost ebenso imposant wie fotogen. Beim gut gelaunten Studium der ausgehängten Infotafeln gefriert uns aber das Blut in den Adern, und wir schauen mit Grusel hinüber zur Brücke, die zum Greifen nahe ihre enormen Betonfüße in den Untergrund streckt. Vor unserem inneren Auge entsteht ein gewalttätiges Bild: die eisige Nacht im Januar 1980, ein riesiges Frachtschiff im Dunkeln, das vom Eis und der mahlenden Strömung gegen die Pfeiler der damaligen Bogenbrücke getrieben wird. Zerstörung. Tote. Autoscheinwerfer, die sich ihren Weg durch die Nacht suchen und plötzlich in der schwarzen Tiefe verlöschen. Schnell wieder die Augen öffnen und abwarten, bis die Sonne und der Blick auf eine zwischen den Schären kreuzende Segelboot-Armada das grässliche Bild vertrieben haben. Weiße Winkel im Blau, einladend glitzernde Wasseroberfläche. Der Albtraum verfliegt.
Herrlich analog im P1800 ES
Ein letzter Blick auf den malerischen Sund, dann lasse ich mich wieder in die tiefen Lederpolster des Volvo fallen: Ganz im Stil der Sechziger und Siebziger ist der als Gran Turismo konzipierte P 1800 ES nicht mit sportlich eng geschnittenen Sitzen ausgestattet, sondern mit knautschig-tiefen Sofas. Der Blick fällt auf ein üppiges Sortiment von Rundinstrumenten und Schaltern – schon zu Beginn der 1970er wusste man gehobenen technischen Anspruch durch ein gerütteltes Maß an Anzeige- und Bedien-Geschäftigkeit zu demonstrieren. Im Vergleich zu den heutigen Software-Schichten, die sich bis in feinste Verästelungen ergehen und nur durch intelligent programmierte digitale Bedienoberflächen sauber zugänglich gemacht werden können, ist das analoge Konzept der rockenden 70er zum Anfassen ehrlich: Die Knöpfe und Zeiger, die Armaturentafel im Holz-Look, der schlanke Armaturenträger mit speckigem Vinyl-Lederüberzug – das wirkt alles cool wie ein Marshall-Vintage-Röhrenverstärker. Allerdings bleibt der Output-Regler auf singenden Blues beschränkt, für donnernde Hardrock-Riffs hat der Volvo zu wenige (Kilo-)Watt: Wer von einem sportlichen Shooting Brake harte Gangart und druckvolles Voranstürmen erwartet hätte, wird vom näselnden 124-PS-Vierzylinder des Volvo arg enttäuscht sein. Zwar trägt der knurrende Schwede an den knapp 1200 kg nicht allzu schwer, und sein relativ großer Hubraum steht für willigen Durchzug, aber die ganze Fahrzeugcharakteristik ist von komfortabler Wanderlust statt heftiger Kurvengier geprägt.
Volvo-Designer verlangte "Mut zur Hässlichkeit"
Und genau das ist an diesem längsten Tag des Jahres die pure Perfektion. Wenn die Sekunden, Minuten, Stunden fühlbar mehr Länge haben, sich gleich hinter Bullerbü ein magisches Raum-Zeit-Kontinuum auftut, braucht man keinen Hektiker als Reisegesellen, sondern einen entspannten Charmeur. Der P 1800 ES ist zuallererst ein Volvo: ungekünstelt, natürlich, trocken. Und dann kommt durch dieses sagenhafte Heck mit der großen Glasklappe und der flachen Silhouette ein ätherischer Zauber ins Spiel, der Platz lässt für Trolle, Elfen und den nicht endend wollenden Zug der Sonne von Horizont zu Horizont. Badehosen, Picknick-Körbe und Liebespaare brauchen keine Dynamik. Schön ist der ES nicht wirklich, und danach scheint sein Designer Jan Wilsgaard auch kaum gesucht zu haben, schließlich soll der Norweger immer wieder auch Mut zur Hässlichkeit eingefordert haben. Dafür hat der P 1800 ES aber ein so umwerfendes Charisma, dass man sich bei jedem Stopp ertappt, den stolzen Schweden hingerissen zu umrunden. Er passt hierher, auf die kleinen Schotterstraßen durch den Wald, in grüne Wiesenwinkel, vor Felsformationen, die sich Urzeit-mächtig aus dem Boden drängen. Und auch neben die abgewitterten Holzzäune an versteckten Bauernhöfen.
Im Volvo P 1800 ES scheint die Zeit stehen zu bleiben
Wir streichen durchs Land. In diesen Ferien-Tagen ist auf Tjörn gewaltig was los: Kinder radeln zum Strand, Reiter wogen in gemächlichem Trab über die Feldwege, zwischen den Schäreninseln summen Boote, und die Uferpromenaden der Hafenstädtchen Skärhamn und Kyrkesund sind gefüllt mit braungebrannten Menschen, die fest entschlossen scheinen, jeden anstandshalber verfügbaren Quadratzentimeter Haut in die Sonne zu halten. Schweden ist sichtlich in Sommerlaune. Selbst der Volvo trödelt mit Gelassenheit durch den Tag, über kleine Landstraßen rollen wir zurück zur Tjörnbron-Brücke. Ab geht es ins Landesinnere – und hier herrscht schlagartig menschenleere Stille. Ganz Südschweden drängt zum Meer, lediglich an den großen Seen strecken ein paar nicht ganz so Sonnenhungrige die blassen Beine ins kalte Wasser. Das weite Land scheint aber regelrecht verwaist zu sein, und beim Blick auf die Uhr im Cockpit stellen wir verblüfft fest, dass sich der Sekundenzeiger nur noch in zähem Zeitlupentempo dahinschleppt.
Sonnenuntergang durch den Kofferraum
In Alingsås angekommen, ist die Zeit vollständig stehen geblieben. Der Volvo schnürt für wenige Runden eingeschüchtert durch leere Straßen und macht sich dann wieder auf den Weg in Richtung Südwesten. Über dem Land hat der Wind vom Meer keine Chance, eine graue Wolkendecke breitet sich am Himmel aus. Nur am Horizont ist ein inzwischen goldener Streifen Licht zu sehen. Als wir wieder am Atlantik ankommen, ist es Abend geworden. Später Abend. Die Sonne glüht orangerot durch die Seitenscheiben des P 1800, lässt den roten Lack beinahe flammend leuchten, sie tanzt auf einer gleißenden Straße übers Wasser. Vor einem Badehäuschen in den Schären hat sich eine Familie versammelt: Nasse Haare, Kindernasen lugen aus Badetüchern, und alle schauen still der untergehenden Sonne entgegen. Es wird dunkler. Ein letztes Glimmen, die Sonne passt exakt in den Kofferraum des Volvo. Dann Dunkelheit.
Midsommar: die langen Tage des Jahres
Am Samstag zwischen 20. und 26. Juni feiert Schweden den Midsommar: Sonne (fast) rund um die Uhr, Beginn der fünfwöchigen Sommerferien, Party-Laune überall, Leben im Freien.
Südschweden-Törn
Wir verlassen Göteborg in nördlicher Richtung und wechseln nach rund 50 Kilometern bei Stenungsund auf die Insel Tjörn. Nach einer Runde entlang der überaus reizvollen Küste rollen wir zurück aufs Festland in Richtung Mjörn-See und dann zurück nach Göteborg.
Technische Daten des Volvo P 1800 ES
TECHNIK | |
VOLVO P 1800 ES | |
Antrieb | 4-Zylinder, 2-Ventiler; Bohrung x Hub 88,9 x 80,0 mm; Verdichtung 10,0 : 1; Hubraum: 1986 cm³; Leistung: 91 kW/124 PS bei 6000 /min; max. Drehmoment: 172 Nm bei 3500 /min; 4-Gang-Schaltgetriebe mit elektrischem Overdrive; Hinterradantrieb |
Aufbau + Fahrwerk | 2+2-sitziger Schooting Brake; Bremsen: rundum Scheiben; Reifen: 165 SR 15; L/B/H: 4385/1700/1285 mm; Radstand: 2450 mm; Leergewicht: 1180 kg |
FAHRLEISTUNGEN | |
0-100 km/h | 10,5 s |
Höchstgeschwindigkeit | 180 km/h |
Grundpreis | 25.140 Mark (1971) |