Der W123 war eine echte Alltagsikone und bleibt weiter der meistgebaute Mercedes. Ist der Ur-Ahn der E-Klasse als Sechszylinder-Modell ein Einstiegs-Oldie? Classic Cars kennt die Antwort.
Egal ob Vater, Onkel, Bruder oder Nachbar:in: Gefühlt gab es in jeder Familie mindestens einen Mercedes W123. Und wenn im näheren Umfeld kein 123er zur Verfügung stand, wartete einer in Hell-Elfenbein am nächsten Hauptbahnhof. Von den Mercedes-Bändern in Sindelfingen und Bremen liefen rund 2,7 Millionen W123. Das reichte 1980 sogar, um den VW Golf vom Thron der Zulassungsstatistik zu verdrängen. Nie wurde ein Mercedes-Modell öfter gebaut. Besonderen Fahrspaß versprechen die insgesamt 345.409 gebauten Limousinen und Coupés mit Sechszylinder-Motor. Und wie steht es heute um den erfolgreichsten Mercedes aller Zeiten? Dieser Frage widmen wir uns in unserer Kaufberatung. Längst ist er im Kreise der geadelten Oldtimer angekommen. Unter den Fahrzeugen mit H-Zulassung wird der Mercedes W123 nur vom VW Käfer übertroffen. Wer nun leichtfertig davon ausgeht, deswegen einen geeigneten W123 an jeder Ecke zu bekommen, der:die irrt gewaltig und wird in unserer Kaufberatung eines besseren überzeugt. Für die Suche nach einem nahezu mängelfreien Modell, das nicht mit hohen Folgekosten überrascht, braucht man Zeit und Geld. Rund um den letzten "echten" Benz, wie ihn seine Fan-Gemeinde gerne nennt, existiert eine gut organisierte und hilfreiche Clubszene. Auch interessant: Unsere Produkttipps auf Amazon
Mercedes-Modellpalette im Video:
Classic Cars: Mercedes W123
Zu ihr gehört seit über 20 Jahren auch David Bothen, der in Bottrop-Batenbrock allerhand Teile und Wissen über den W123 angesammelt hat. Gemeinsam mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins für Freunde des W123 e.V. haben wir eine 250er Limousine der dritten Serie mit Vergasertechnik und einen 280 E mit Einspritzung aus der zweiten Serie unter die Lupe genommen. Wer mit dem Gedanken spielt, sich mit dem W123 den Traum vom günstigen, soliden und wartungsarmen Einstiegs-Oldie zu erfüllen, der:die sollte Folgendes bedenken: "Grundsätzlich ist der W123 ein sehr guter, noch günstiger Einsteiger in die Oldtimerszene", erklärt 123-Spezialist Bothen. Aber: Der 250er sei mit seiner komplizierten und durstigen Vergasertechnik aber nicht als Alltagsauto geeignet. Interessanter sei das 280er Topmodell, das als Limousine und Coupé mit K-Jetronic-Einspritzung gebaut wurde. Mit Features wie dem von 1980 an verfügbaren ABS und einem Becker Mexico wird dieser Mercedes W123 zum alltagskompatiblen Oldtimer. Ist ein potenzieller Kandidat gefunden, gilt der erste Blick der Karosserie. Per Hebebühne sollte der gesamte Wagen rundum in Augenschein genommen werden. Außer den Wartungsfugen der vorderen Kotflügel rosten die Stoßstangen unter den Gummilippen entlang der Aufnahmen gerne der Länge nach von innen nach außen durch. Neuralgische Stellen sind auch die Wagenheberaufnahmen. Zudem zeigt fast jeder W123 Korrosion im Bereich der Radhäuser bis hin zu den Endspitzen. Die hinteren Radläufe können entlang der Spitze über den Bogen bis zum Heck komplett wegrosten. Ist auch der Innenkotflügel betroffen, wird eine umfangreiche Reparatur notwendig. Wesentlich verbessert wurde der Rostschutz erst durch die werksseitige Montage von 180°-Kunststoffradkästen Ende 1981.
Rost am Mercedes W123
Typisch ist Rost im Übergang zwischen Schweller und hinterem Radlauf. Kritisch wird es aber erst, wenn die hinteren Längsträger zwischen Radkastenübergang und der Innenseite der Wagenheberaufnahme rosten. Absolutes Ausschlusskriterium bei jedem 123er ist ein mangelhafter Zustand der hinteren Anschlagpuffer. Hat hier der Rost großflächig zugeschlagen, hat man es mit einem wirtschaftlichen Totalschaden zu tun. Eine weitere Coupé-Krankheit sind Rostblasen zwischen C-Säule und hinteren Kotflügeln, wie unsere Kaufberatung zeigt. Der Heckscheibenrahmen ist bei Modellen ab Baujahr 1982 ein kritischer Bereich. Rost unter den seitlichen Zierleisten ist bei allen Modellen bis 1981 normal, hier sollte aber vor allem an der Fahrertür nicht eine "Blume" nach der nächsten blühen. Auch die Türunterkanten des Mercedes W123 sowie der Bereich rund um die untere Zierleiste sollte keine größeren Auflösungserscheinungen zeigen. Ein anschließender Blick unter die Motorhaube versteht sich bei einer Kaufberatung von selbst. Das Hauptaugenmerk sollte auf dem Zustand der Stirnwand im Bereich der Wasserabläufe liegen. Eine aufwändige Reparatur dort kann schnell sehr teuer werden und ist ein absolutes K.O.-Kriterium für den W123-Kauf. Ist hier alles o.k., sollten zudem Stehbleche und Kotflügelkanten untersucht werden. Die Vertiefungen unter den Scheinwerfern zwischen den Schweißnähten rosten dabei genauso gern wie die Kühler- und die Batterieblechaufnahme. Letztere sollte wie die Taschen der Haubenscharniere in der Kaufberatung intensiv begutachtet werden. Dort sitzt ein unzugänglicher Ablauf, der häufig verstopft ist und meist nie gereinigt wurde.
Kinderkrankheiten beim Mercedes W123
Ist auch hier alles in Ordnung, kann im Rahmen des Kaufberatung-Tests zur Probefahrt gestartet werden. Die Technik der Sechszylinder-Modelle glänzt durch Zuverlässigkeit. Gelegentlich macht sich dezentes Ventiltickern aufgrund überforderter Einstellschrauben bemerkbar. Den 280er plagen zudem zuweilen Kopfschwitzen, ein hoher Ölverbrauch und klappernde Nockenwellen. Bei den Einspritzern nerven häufig defekte Benzinpumpenrelais. Die größte Herausforderung stellt der im durstigen Mercedes 250 und im 280 eingebaute Solex 4A1-Doppel-Registervergaser dar. Er bringt Mechaniker:innen auch heute noch zum Fluchen und war schon im 100.000-Kilometer-Dauertest der AUTO ZEITUNG 1979 ein großer Minuspunkt. Die Automatik- und die Viergang-Schaltgetriebe liefern hingegen keinen Grund zur Sorge. Einzig die beliebten Fünfgang-Schalter rasseln und das Differenzial singt zuweilen. Das gute Handling des Mercedes W123 kann aufgrund ausgeschlagener Kugelgelenkköpfe und Spurstangen leiden. Fühlt sich die Hinterachse instabil an, deutet dies auf einen gerissenen Alukern in der Hinterachsaufhängung hin. Spiel in der Kugelumlauflenkung ist normal und kann bis zu einem gewissen Punkt nachgestellt werden. Obligatorischer Check in jeder Kaufberatung: Ist aus technischer Sicht alles im Rahmen, bringt ein Blick in den gesamten Innenraum letzte Sicherheit. Die Heizung und – sofern vorhanden – die Klimaanlage sind weitgehend unproblematisch. Das gilt auch für die Zentralverriegelung und die elektrischen Fensterheber. Die Klimaautomatik des W123 hingegen ist für ihre Störanfälligkeit und astronomische Reparaturkosten bekannt.
W123 ist der "gute Onkel"
Achtung: Selbst wenn das Äußere des Mercedes W123 und die Performance überzeugen, kann ein unansehnliches und unvollständiges Interieur die Kaufabsichten zunichte machen. Fehlende oder ausgeblichene Ausstattungsteile müssen sonst mühevoll und teilweise zu Mondpreisen zusammengetragen werden. Zum Abschluss dempfiehlt sich ein Blick unter die Teppiche. Wasser kann sich durch den Schiebedachkasten oder poröse Dichtungen eingeschlichen und den Bodenblechen schwer zugesetzt haben. Ist der begutachtete W123-Sechszylinder weitgehend rostfrei, vollständig und ein Einspritzer, dann steht dem Kauf des "guten Onkels" nichts im Wege.
Auch interessant:
Technische Daten des Mercedes W123
Der W123er bleibt auch künftig ein "guter Stern auf allen Straßen". Ob man sich nun für das gediegene, aber auch teurere Coupé oder die praktische und inzwischen selten gewordene Limousine entscheidet, bleibt dem eigenen Geschmack und dem Geldbeutel überlassen. Die Stärken und Schwächen in Bezug auf die Wartungsfreundlichkeit teilen sich die beiden Sechszylinder-Karossen. Eine penible Suche erspart hohe Restaurierungskosten in Bezug auf Karosserie und Innenraum. Die Hilfe vor einem Kauf durch die gut organisierte und bestens informierte Clubszene ist in jedem Fall zu empfehlen