Mercedes 220 SE - Heckflosse: Kaufberatung, Bilder und technische Daten Grosse Flosse
Formensprachliche Eleganz, Sechszylinder-Kultur und Reisekomfort bietet die Mercedes-Heckflosse 220 SE par excellence. Kaufberatung
In den 1960er-Jahren war sie das Oberklasse-Automobil „Made in Germany“ schlecht-hin: die „große Flosse“ von Mercedes-Benz, sachlich korrekt W111-Baureihe genannt. Eingeführt 1959, löste sie die bis dahin gebauten großen Ponton-Modelle ab und zeichnete sich – sprichwörtlich für einen Mercedes – durch ein neu definiertes Maß an passiver Sicherheit aus. Die Fahrgastzelle war außerordentlich stabil ausgelegt, und Vorder- als auch Hinterwagen besaßen Knautschzonen, um im Fall eines Unfalls die Aufprallenergie in Verformungsarbeit umzuwandeln.
Doch nicht nur der Sicherheitsgedanke stand bei der Entwicklung im Vordergrund. Ähnlich den US-amerikanischen Wagen spendierte Mercedes-Benz-Chefdesigner Karl Wilfert der W111-Karosserie die namensgebenden Heckflossen an den hinteren Kotflügeln. Wasschnittig und elegant aussah, hatte aus Sicht von Mercedes-Benz freilich einen sehr viel tieferen Sinn, und so bezeichnete man sie als „Peilstege“, die das Rückwärts-Einparken erleichtern sollten. Wie wir bei unserer Testfahrt mit einem 220 SE jedoch nach wenigen Minuten lernen, ist die Karosserie der „Flosse“ bereits als solche sehr zielgenau abzuschätzen, und so dürfen die mit einer dezenten Chromkante garnierten Heckflossen durchaus ins Reich der Stilmittel verwiesen werden. Nicht jedoch, ohne sie nochmals ob ihres ausdrucksstarken Designs zu würdigen.
KULTIVIERTER MOTOR
Nicht minder begeisternd als die von hoher Eleganz bestimmte Formensprache des Blechs ist die Motorisierung unseres Mercedes 220 SE. Den Zündschlüssel umgedreht, dazu fünf Millimeter Gas, und mit einem sonoren Schnurren legen sich die sechs Kolben des längs eingebauten Reihensechszylinders ins Zeug. „Wie ein junges Raubkätzchen“, entfährt es uns spontan, und der betreuende Mechaniker von Mercedes-Benz Classic lächelt wissend.
„Passen Sie auf mit der Lenkradschaltung für die Automatik, sie besitzt eine Kulisse. Manche Zeitgenossen reißen da fast den Wählhebel heraus“, erklärt er uns mit einem Blick, als habe er soeben in eine Zitrone gebissen. Tatsächlich erfordert das filigrane Wählhebelchen eine gefühlvolle Hand, um von der „P“-Stellung über „R“ und „N“ zur „4“ und damit zum Fahrprogramm zu gelangen. Von einer mechanischen Kraftstoffeinspritzung mit Bosch-2-Stempel-Pumpe effektiv mit zündfähigem Gemisch versorgt, begeistert der 220 SE mit lochfreier Gasannahme und direktem Ansprechverhalten.
Auch die Automatik verrichtet ihren Dienst brav, schaltet unter höherer Last allerdings zunehmend ruckend. Nachdem wir den Motor schön warmgefahren haben – die Nadel des Wasserthermometers pendelt bei 80 Grad –, gönnen wir dem mit 80 Millimeter Bohrung und 72,8 Millimeter Hub kurzhubig ausgelegten Reihensechszylinder etwas Auslauf. Wacker schiebt er die rund 1,4 Tonnen schwere Limousine an und begeistert mit einem vorbildlichen Maß an Laufruhe. Sofort kommt einem das Fünf-Mark-Stück in den Sinn, das hochkant auf dem Ventildeckel platziert werden könnte, ohne dass es umfiele.
Eine Klasse für sich ist auch der Fahrkomfort. Die Feder-Dämpfer-Abstimmung ist soft, aber nicht zu weich. So werden Fahrbahnunebenheiten gekonnt verarbeitet, und eine etwas sportlichere Gangart wird dennoch sauber pariert. Hinzu kommt eine sehr leichtgängige, servounterstützte Lenkung, die der knapp 4,80 Meter langen Limousine zu leichtfüßigen Umgangsformen auf kurvenreichem Terrain verhilft – mit gut austarierter Mittellage –, und die selbst bei höheren Tempi stets ein Gefühl hundertprozentiger Sicherheit und Geborgenheit gewährt.
Nicht minder solide ist das Kapitel Bremsen. „Sie müssen nur beachten, dass der Bremskraftverstärker zum völligen Druckaufbau einen Wimpernschlag Zeit benötigt. Entsprechend tritt die volle Verzögerung einen Sekundenbruchteil später ein als erwartet“, hatte uns der freundliche Mechaniker mit auf den Weg gegeben. Und tatsächlich: Es dauert einen Sekundenbruchteil, währenddessen man versucht ist, etwas stärker aufs Bremspedal zu treten. Doch kaum daran gedacht, wirft die Heckflosse vehement den Anker.
Lässt man schließlich noch den großzügigen Innenraum mit seinen Chromapplikationen, den schmucken, solide gefertigten Hebeln und Schaltern auf sich wirken, bekommt man einen vagen Eindruck dessen, was es in den frühen 1960er-Jahren bedeutete, wenn ein Fahrer voller Stolz behauptete: „Ich fahre einen Mercedes!“ Ganz ohne Zweifel gehört die „große Flosse“ zu den Meilensteinen in der Firmengeschichte, die den legendären Mercedes-Ruf von Solidität, Sicherheit und Komfort verfestigten.
FLOSSENFEIND ROST
Doch wo Licht ist, gibt’s auch Schatten. Im Fall der großen Heckflosse gilt dies ausgerechnet bei der als hochsolide gepriesenen Karosserie. Bedauerlicherweise teilt die W111-Baureihe das Schicksal fast aller Autos aus jener Zeit – und das heißt Rostfraß. Zu tausenden starben die „Flossen“ an der braunen Pest, und so darf sich jeder glücklich schätzen, der noch ein gutes, fahrtaugliches Exemplar dieser Oberklasse-Limousine besitzt.
Von innen her durchgerostete hintere Radläufe und korrodierte C-Säulen, ebenso wie Rostbefall an Wagenheber-Aufnahmen, Innen- und Außenschwellern, Schottblechen und Radhäusern dezimierten den „Flossenbestand“ massiv. Besondere Vorsicht ist bei den Rahmenlängsträgern geboten. Sie müssen in einwandfreiem Zustand sein, sind sie doch Bestandteil des Sicherheitskonzepts und besitzen daher vorn wie hinten definierte Verformungsstellen.
Kaum kritisch ist der Antriebsstrang zu sehen. Abgesehen vom hochgezüchteten Motor des 300 SE sind die Sechszylinder unverwüstlich. Etwas Ölnebel im Bereich von Motor und Getriebe ist tolerierbar, doch „Ölsardinen“ dürfen nicht sein. So gilt die Prüfung von Motor, Getriebe beziehungsweise Automatik vordringlich dem Fahrbetrieb und mithin sauberem Ansprech-, Lauf- sowie Schaltverhalten.
Mercedes 220 SE: Technische Daten und Fakten |
Antrieb R6-Zylinder; längs eingebaut; 2-Ventiler; eine obenliegende Nockenwelle, Duplex-Kettenantrieb; Gemischbildung: mechanische Kraftstoffeinspritzung mit 2-Stempel-Pumpe von Bosch; Bohrung x Hub: 80 x 72,8 mm; Hubraum: 2195 cm3; Verdichtung: 8,7:1; Leistung: 88 kW/120 PS bei 4800/min; maximales Drehmoment: 189 Nm bei 3900/min; 4-Ggang-Getriebe bzw. auf Wunsch Automatik; Lenkrad- oder Mittelschaltung; Hinterradantrieb |
Aufbau und Fahrwerk Selbsttragende Ganzstahlkarosserie mit vier Türen; Radaufhängung vorn: Doppel-Querlenker, Schraubenfedern, Stabilisator; hinten: Eingelenk-Pendelachse, Schubstreben, Schraubenfedern, Ausgleichsschraubenfedern; v./h. hydraulische Stoßdämpfer; Kugelumlauflenkung mit Servounterstützung; Bremsen: v./h. Trommeln (ab 4/62 Scheiben)/Trommeln; Bremskraftverstärker; Reifen: v./h. 6,70-13 Sport (ab 1960 7,25-13 Sport); Stahlräder: v./h. 5JK x 13 |
Eckdaten L/B/H: 4875/1795/1500 mm; Radstand: 2750 mm; Spurweite v./h.: 1470/1485 mm; Leer-/Gesamtgewicht: 1380 (Autom. 1420)/1810 (ab 1960 1875) kg; Tankinhalt: 65 l; Bauzeit: 1959 bis 1965; Stückzahl: 66.086; Preis (1959): 14.950 Mark |
Fahrleistungen1 Beschleunigung: 0 auf 100 km/h in 14 s; Höchstgeschwindigkeit: 172 (Autom.168) km/h; Verbrauch: 14 (Autom.15) l/100 km |
Marktlage |
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Modell | Zustand 2 | Zustand 3 | Zustand 4 | |
220 SE | 24.200 Euro | 12.400 Euro | 5200 Euro | |
300 SE | 36.200 Euro | 17.200 Euro | 8200 Euro |
Definition der Zustandsnoten
Eine Flosse wie der 220 SE hat schon was! Wer eine sucht, der sollte Wert auf eine gut belegte Historie des Fahrzeugs, am besten noch ein plausibel geführtes Wartungsheft legen. Da nahezu alle am Markt befindlichen „Flossen“ in ihrem langen Leben einmal eine Restaurierung oder zumindest Teilrestaurierung erfuhren, sollten die dabei ausgeführten Arbeiten ebenfalls sauber dokumentiert sein. Findet man schließlich ein schönes, substanziell gutes Exemplar ohne Wartungsstau, darf man sich durchaus zufrieden zurücklegen und mit souveräner Gelassenheit sagen: „Ich fahre einen Mercedes!“
Jürgen Gassebner